Die Größen Walter Jurmann, Erich Wolfgang Korngold oder Arnold Schönberg flohen in den 40er-Jahren sehr unfreiwillig vor dem NS-Regime in die warmen Hügel Hollywoods – auch, um als Filmkomponisten zu überleben.Als sich der Komponist Werner Richard Heymann sechs Jahre nach seiner Rückkehr aus Hollywood im Jahr 1957 um die Wiedererlangung der deutschen Staatsbürgerschaft bewarb, wurde er von der Einbürgerungsbehörde in München gefragt, ob er Kenntnisse über die deutsche Kultur habe. Als Beweis sollte er ein deutsches Volkslied singen, und Heymann soll daraufhin „Das gibt᾽s nur einmal“ gesungen haben, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass er der Komponist dieses Liedes in dem Film „Der Kongreß tanzt“ ist, welcher 1931 auf den deutschen Kinoleinwänden ein rauschender Erfolg wurde, dank so wunderbarer Schauspieler wie Lilian Harvey und Willy Fritsch.
Hätte man seinem Kollegen Walter Jurmann die gleiche Frage gestellt, wären die Ohren der deutschen Einwanderungsbehörde mit dem Lied „Veronika, der Lenz ist da!“ überzeugt worden. Jurmann bediente verschiedenste Genres: stimmungsvolle Wiener Walzer, freche Berliner Schlager, charmante Pariser Chansons und schmissigen amerikanischen Jazz. Berühmte Interpreten wie Richard Tauber, Jan Kiepura und Martha Eggerth, Greta Keller oder Judy Garland sangen seine Lieder.
Aber Walter Jurmann wollte, obwohl die GEMA ihm versprach, einen roten Teppich auszurollen, nicht mehr nach Deutschland zurück. Dass diese Entscheidung gar nicht so leicht war, daran erinnert sich seine Frau Yvonne Jurmann auch heute noch: „Der Aufenthalt in Europa ist ihm sehr nahegegangen. Er war in Berlin, München, Hamburg, Zürich, Paris. Er hat seinen Texter Fritz Rotter wieder getroffen und mit Hans Albers ein Mittagessen in Berlin gehabt. Doch Amerika war ihm wichtig geworden. Er lehnte alles ab mit den Worten: ‚Ich habe jetzt eine schöne junge Frau. Sie ist mir das Wichtigste. Sie hat eine bessere Zukunft in Amerika.‘ Jeden Tag hat er mir geschrieben.“
Aber von vorne: Im September 1934 – von Paris kommend, wo die Zuschauer die Kinos stürmten, um den Film Nuits Moscovites zu sehen, zu dem Walter Jurmann die Musik komponiert hatte, erreichte er New York und küsste den amerikanischen Boden. Vielleicht, weil er auf ein glückliches Leben in Amerika hoffte. Vielleicht aber auch, weil ihm plötzlich bewusst war, dass ihm der Vertrag mit MGM das Leben gerettet hatte. Denn er hatte in seinem ersten Exil in Paris in den Zeitungen gelesen, wie in Deutschland im April 1934 der erste Boykott der neuen nationalsozialistischen Machthaber gegen die jüdischen Mitbürger brutal über die Bühne gegangen war. Amerika wurde zum hilfreichen Ufer, nicht nur für Walter Jurmann. Am 26. Oktober 1934 gab der Direktor für Öffentlichkeitsarbeit des New Yorker Hotels Edison die Presseerklärung heraus: „Europäische Komponisten, Walter Jurmann und Bronislaw Kaper, auf dem Weg nach Hollywood.“
Die Musik von Walter Jurmann, sie eilte ihm voraus. Sein Hit Ninon, gesungen von Jan Kiepura in dem Film Ein Lied für Dich, hatte 1933 ganz Europa erobert, und der Leiter der MGM-Musikabteilung, Jack Robbins, erwarb 1935 die amerikanischen Rechte, während Walter Jurmann bei MGM schon fest im musikalischen Sattel saß und für die aus Österreich emigrierte Schauspielerin Luise Rainer den Song You’re all I need komponierte – für den 1935 bei MGM gedrehten Film Escapade, was die Schauspielerkarriere von Luise Rainer in Hollywood erheblich beförderte.
Keine Frage, Hollywood wurde zum Rettungsring deutsch-jüdischer Komponisten. Hätten sie ihn nicht ergriffen, wäre es ihnen und Walter Jurmann so ergangen wie dem wunderbaren Sänger und Komponisten Willy Rosen, dessen Lied Wenn die Geranien blühn Walter Jurmann 1930 als Sänger mit dem Jazz-Orchester John Morris auf Adler-Elektro-Schallplatte einspielte. Willy Rosen ging leider aus Paris mit dem Schauspieler Kurt Gerron in die Niederlande, wo sie das „Theater der Prominenten“ gründeten. Nach dem Überfall durch Nazi-Deutschland auf Holland wurde ihr Leben in Auschwitz mörderisch beendet.
Auch Kurt Weill, der Komponist von Bertolt Brechts Dreigroschenoper ging 1935 von Paris nach Hollywood, weil ihm der Regisseur Josef von Sternberg versprochen hatte, hier Arbeit für ihn zu finden. In Hollywood angekommen, war davon keine Rede mehr. Ein bisschen neidisch schreibt Kurt Weill am 7. Februar 1937 aus Hollywood an seine Frau Lotte Lenya in New York, dass der Regisseur Ernst Lubitsch für seinen neuen Film Angel mit Marlene Dietrich den Komponisten Walter Jurmann für die Filmmusik engagiert hat. Aber in Hollywood entschieden nicht die Regisseure, wer Filmmusik komponiert, sondern das Studio – und Paramount entschied sich für Friedrich Hollaender und Werner Richard Heymann. Auch Friedrich Hollaender kam ja 1934 in Hollywood an Bord. Seine großartige Musik für Marlene Dietrich Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt in dem 1930 von Josef von Sternberg gedrehten Film Der blaue Engel half Friedrich Hollaender nur bedingt weiter. Er gründete ein Tingeltangel-Theater, mit dem er sich einigermaßen existenziell über Wasser halten konnte.
In Hollywood sammelte sich die künstlerische Prominenz der Weimarer Republik. Einer zog den anderen nach, so wie es glücklicherweise dem Komponisten Erich Wolfgang Korngold durch Max Reinhardt geschah. Letzterer lud 1934 Korngold ein, für seinen Film A Midsummer Night᾽s Dream die Filmmusik anhand Mendelssohns Schauspielmusik zu arrangieren. Korngold hatte mit Reinhardt bereits in Europa erfolgreich zusammengearbeitet. Für den Film Sommernachtstraum setzte der 37 Jahre alte Komponist neue Maßstäbe in der Musikgeschichte, was jedoch keineswegs bedeutete, dass es ihm deshalb finanziell gut gegangen wäre. Im Gegenteil; seine Frau hatte Glück, etwas dazuverdienen zu können, indem ihr Yvonne Jurmann, welche in Los Angeles eine Fabrik für Strickmode gegründet hatte, einen Job in ihrem Unternehmen vermittelte.
1936 war Walter Jurmann auf dem Höhepunkt seiner Komponistenkarriere. Sein Titel San Francisco für den gleichnamigen MGM-Film mit Clark Gable und Jeanette Mac Donald wurde ein Welterfolg. Zwei Jahre später kam Hanns Eisler nach Hollywood. Für Fritz Langs Film Hangmen Also Die nach einem Drehbuch von Bertolt Brecht, schrieb Hanns Eisler die Partitur, wofür er in der Kategorie „Beste Filmmusik des Jahres 1943“ sogar für den Oscar nominiert wurde.
Doch es gab auch andere Hollywood-Schicksale. Yvonne Jurmann erinnert sich: „Nicht alle Musiker-Emigranten hatten Erfolg in Amerika. Doch Walter hätte es lieber gesehen, es wäre ihnen vergönnt gewesen. Viele Emigranten sind in den USA seelisch kaputt gegangen. Ralph Benatzky zum Beispiel war absolut depressiv. Paul Abraham, dessen Musik ich liebe, ist leider in New York schwer krank geworden. Keiner wollte seine Musik. Sie hatten erwartet, dass sie gefeiert werden wie in Deutschland. Wir bekamen natürlich Besuch. Robert Stolz war da, Paul Abraham, Emmerich Kálmán, und auch Martha Eggerth und Jan Kiepura waren oft bei uns in Los Angeles zu Gast. Sie haben zuerst auch in Los Angeles gewohnt, in Beverly Hills. Später sind sie nach New York umgesiedelt.“
Ein kluger Kopf hat einmal Hollywood als das „Weimar der USA“ bezeichnet. Kein falsches Bild: Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Bruno Frank, Bertolt Brecht, Franz Werfel, Leonhard Frank, Vicki Baum bildeten den literarischen Pool, im filmischen dominierten Marlene Dietrich, Peter Lorre, Luise Rainer, Fritz Kortner, Billy Wilder, Fritz Lang, Josef von Sternberg, Max Reinhardt, Ernst Lubitsch – und die berühmteste Filmmusik wurde geschrieben von Walter Jurmann, Hanns Eisler, Kurt Weill, Friedrich Hollaender, Werner Richard Heymann, Erich Wolfgang Korngold, nicht zu vergessen Hans J. Salter und Arnold Schönberg.
Respekt, und er akzeptierte seine Denkart"
Apropos Schönberg: Der Komponist rettete sein Leben, indem er bereits im Mai 1933 Deutschland verließ. An der Preußischen Akademie leitete er eine Meisterklasse für Komposition, die ihm von den Nationalsozialisten nach deren Machtantritt sofort entzogen wurde. Über Paris und Boston, ließ er sich 1934 in Los Angeles nieder, wo er von 1936 bis 1944 als Professor für Musik an der Staatsuniversität Kalifornien wirkte. Thomas Mann ist Schönberg wohl zum ersten Mal im Haus von Vicki Baum begegnet. Am 8. Mai 1943 notierte Thomas Mann in sein Tagebuch: „Abends mit Schönbergs. Holte ihn viel über Musik und Komponisten-Dasein aus, und es trifft sich gut, daß er selbst auf Verkehr der Häuser dringt. Später Aufbruch.“
Eine große Nähe gab es zwischen Walter Jurmann und Arnold Schönberg nicht, aber man sah und kannte sich. Yvonne Jurmann antwortete mir kürzlich in einem Telefonat auf meine Frage, wie Walter Jurmann zur „Zwölftontechnik“ von Arnold Schönberg stand (sie ist mit Schönbergs Sohn und seiner Familie gut befreundet) Folgendes: „Walter hat ihn nicht kritisiert, sondern seine Ton-Schöpfung akzeptiert. Er war dafür offen, obwohl es nicht sein musikalischer Geschmack war. Aber Schönberg, der diese Musik kreiert hat, hatte Walters kollegialen Respekt, und er akzeptierte seine Denkart. In den USA wird Schönbergs Musik überall gespielt, und er ist hier ein bekannter Komponist.“
Ohne die deutschen, jüdischen und österreichischen Künstler aus Film, Theater, Musik und Kabarett, die vor Hitler-Deutschland und Europa fliehen mussten, wäre Hollywood nicht zu jenem Mythos gelangt, den es noch heute besitzt. Die musikalischen Karrieren solcher großartiger Schauspielerinnen wie Judy Garland und Deanna Durbin, sie sind kaum zu denken ohne die Musik der Emigranten. Beim Schreiben über die Biografie des Filmkomponisten Walter Jurmann wurde mir dramatisch bewusst, welch geistigen, künstlerischen und humanistischen Verlust sich Deutschland zwischen 1933 und 1945 selbstmörderisch zugefügt hat – und wie sich zwei deutsche Staaten von 1945 bis 1990 damit auseinandersetzen mussten. Ein Defizit, das nach wie vor spürbar ist. Deshalb ist es unser aller Pflicht, diese großen Persönlichkeiten, die die Welt mit ihrer Kunst reicher gemacht haben, nicht zu vergessen, sondern sich ihrer dankbar zu erinnern!